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„Eine Geschichte, die fast hundertprozentig perfekt ist“

Fotos: Anke Hohmeister

Fein säuberlich aufgereiht, hängen sie an der Wand: Zangen, Scheren, Schraubenschlüssel in unterschiedlichen Größen, Ratschen und Felgen. In einem Regal türmen sich Fahrradkörbe, ganz oben, direkt unter der stuckbesetzten Decke, lagern die Rücklichter. Zwischendrin schraubt ein Jugendlicher gerade an einem Rahmen, aus dem vielleicht mal das Lieblingsrad von jemanden wird. Es ist voll hier in den Räumen der „Taschengeldfirma“ in der Flughafenstraße, aber nicht chaotisch. Darauf legt Talu Emre Tüntaş großen Wert. Er sagt: „Wenn du eine gute Ordnung hast, können viele coole Sachen laufen. Wenn die nicht da ist, verknotet sich alles.“

Seit 2010 engagiert sich der 27-Jährige für den Jugendhilfeverein, der als Berufsorientierungsprojekt gestartet ist und neben der Fahrradwerkstatt auch Projekte zu Regenerativen Energien im Portfolio hat. Aus einer ehrenamtlichen Arbeit ist inzwischen eine feste Beschäftigung geworden. „Mehr als Vollzeit“, sagt Talu, der offiziell auch noch Altertumswissenschaften im Master studiert. Über viele Jahre lang hat er versucht die beiden gegensätzlichen Welten unter einen Hut zu bekommen. Im Studium hatte er sich auf botanische Reste spezialisiert, also totes, archäologisches Material, das in mühseliger Kleinarbeit freigelegt und analysiert werden muss. Die Arbeit mit Jugendlichen und Fahrrädern, die ganz am Anfang noch auf der Straße stattfand, weil es zunächst keine passenden Räumlichkeiten gab, war dazu der größtmögliche Gegenentwurf. In Bewegung sein – das ist Talu wichtig. Für sich selbst, auf persönlicher Ebene, aber auch in Hinblick auf die Dinge mit denen er sich beschäftigt.

Du hast viele Jahre lang, quasi ohne Bezahlung, viel Zeit und Energie in die Projekte der Taschengeldfirma gesteckt. Was war deine Motivation?
Ich war lange Zeit Stipendiat bei der Friedrich Ebert Stiftung und hatte das Privileg einer Förderung. Durch das ehrenamtliche Engagment bei der Taschengeldfirma konnte ich der Gesellschaft etwas zurückgeben. Ich konnte hier meinen persönlichen Interessen nachgehen und sie zu Projekten machen, die eine Finanzierung bekommen haben und von denen nicht nur ich, sondern auch viele Jugendliche profitiert haben. Als Anfang 20-Jähriger weiß man ja noch nicht, was man den Rest seines Lebens machen will – das ist eigentlich auch zu viel verlangt. Hier konnte ich mich ausprobieren.

Wie kam es zur Gründung der Fahrradwerkstatt?
Die Fahrradwerkstatt gibt es seit 2012. Ganz am Anfang hat sie noch hier auf der Straße stattgefunden – da haben wir mit Nachbarskindern an alten Fahrrädern rumgebastelt. Dann kam der Standort auf dem Tempelhofer Feld dazu. Wir haben schnell gemerkt, dass das Thema bei den Kindern und Jugendlichen zieht und dass man eine Menge bewegen kann. Vorausgesetzt, man vergrößert Schritt für Schritt sein Wissen und schafft die richtigen Werkzeuge an.

Was fasziniert dich persönlich am Fahrrad als Fortbewegungsmittel?
Für mich ist das eine Geschichte, die fast hundertprozentig perfekt ist. Man bewegt sich auf eine sportliche, gesunde Art und Weise fort, setzt sehr wenig Emissionen frei (mal abgesehen von denen, die bei der Herstellung entstehen) – eigentlich nur Körperwärme und Schweiß. Man schützt und bewahrt die Umwelt, nimmt wenig Platz im Straßenverkehr ein. Dafür muss man aber auch besonders aufmerksam sein, weil man durch die fehlende Schutzhülle unmittelbarer von Gefahren bedroht ist. Das sind schon mal einige Argumente, die für mich sehr stark sind und die auch Veränderungen in anderen Bereichen anstoßen können, wenn man mal länger drüber nachdenkt.

Foto: Anke Hohmeister

Wie viele Jugendliche erreicht ihr mit eurem Angebot?
Hier in unseren Räumen in der Flughafenstraße erreichen wir bis zu 50 Jugendliche. 20 davon sind sehr regelmäßig da. In den Sommermonaten, auf dem Feld, haben wir mehr Laufpublikum. Da erhöht sich die Teilnehmerzahl schnell mal auf das Zehnfache.

Neben der Fahrradwerkstatt beschäftigt ihr euch seit 2016 auch noch mit regenerativer Energie und habt an der Umsetzung des Windrades auf dem Tempelhofer Feld mitgewirkt. Wie kam es dazu?
Das Tempelhofer Feld ist ein super Ort, um für regenerative Energiesysteme zu werben. Das ist wie ein Schaufenster, an dem Tausende Menschen täglich entlang laufen. Das Modell, das wir dort in Kooperation mit KitRad e.V. aufgestellt haben, ist komplett handgefertigt und aus Holz. Sogar die Flügel wurden in langwieriger, ermüdender Arbeit handgeschnitzt. Unser Do-it-yourself-Rad hat zwar nicht viel mit einer industrialisierten Windkraftanlage zu tun, funktioniert aber im Wirkprinzip genau. Es gibt sogar Messinstrumente, die man online abrufen kann. Die zeigen dann live an, wie viel Energie gerade produziert wird. Eigentlich ist ist es mit dem Windrad genauso wie mit dem Fahrrad. Es ist ein Bereich, wo man viel selbst machen und bewegen kann.

Was sind für dich die besonderen Herausforderungen, die die soziale Arbeit in einem Bezirk wie Neukölln mit sich bringt?
Nord-Neukölln ist einerseits ein total hipper Bezirk mit vielen jungen erfolgreichen Leuten, die nachts feiern wollen. Gleichzeitig gibt es hier krasse, öffentlich gut sichtbaren Probleme wie Obdachlosigkeit. Wenn ich in den U-Bahnhof Leinestraße runtergehe, schockiert mich das immer noch, wie Leute da Crack rauchen oder sich was einspritzen. Daran kann man sich einfach nicht gewöhnen. In meiner Arbeit geht es mir vor allem darum, Menschen aus verschiedenen Communitys und Gruppen zusammen zu bringen und für ein gegenseitiges Verständnis zu werben. Ich profitiere da natürlich auch von meinem bikulturellen Hintergrund: Weil ich die Gepflogenheiten kenne, bekomme ich zum Beispiel viel schneller Zugang zur muslimischen Community. Mir ist es wichtig, die Jugendlichen dafür zu sensibilisieren, dass dieser Bezirk unsere Heimat ist und dass wir hier alle Verantwortung übernehmen müssen. Dazu gehört für mich, dass man etwas aus sich machen sollte, zum Beispiel in dem man Bildungsangebote nutzt, aber auch, dass man der Gesellschaft versucht etwas zurückzugeben.

Foto: Anke Hohmeister

Welche Projekte stehen bei euch in näherer Zukunft an?
Aktuell bereiten wir ein vom Bezirksamt Neukölln gefördertes Projekt vor, in dem wir durch Recycling- und Upcycling-Ansätze der Vermüllung in den Neuköllner Straßen entgegen wirken werden. In diesem Zuge wollen wir auch ein E-Cargobike aus recycelten Materialien bauen. Außerdem arbeiten wir an einem Projekt anlässlich des Europäischen Inklusionstages am 5. Mai, in dem es darum geht, einen Rollstuhl so umzufunktionieren, dass er beim Rollen Energie erzeugt, mit der sich dann ei Handy aufladen lässt. Auch der Aufbau eines Kreuzberger Standortes in der Skalitzer Straße sthet in diesem Jahr noch an.

Dieser Text ist im Dezember 2018 in unserem Magazin „Kiezköpfe“ erschienen.

die Taschengeldfirma, Flughafenstraße 62, https://taschengeldfirma.org/

Radwerkstatt auf dem Tempelhofer Feld, Eingang Oderstraße, gegenüber vom Allmende Kontor
Öffnungszeiten: ab April immer Sa+So 13-19 Uhr geöffnet.