Dokuthek

Im Theater muss man mit allem rechnen

Fotos: Emmanuele Contini

Text: Magdalena Schrefel

Zu Beginn unseres Gesprächs zitiert sich Werner selbst. „Kuck“, sagt er, „hier auf dieser Ansichtskarte, das habe ich gesagt: »Ich dachte, so etwas kann doch kein Theater sein, was soll denn das werden? Inzwischen weiß ich, zum Schluss gibt es immer eine Aufführung«.“ Er lacht, während er mir gegenübersitzt, ein älterer Mann, stattlich. Mit Bedacht setzt er einen Fuß vor den anderen, als wir an das Fenster gehen. Wir setzen uns und ich stelle ihm meine Fragen. Er antwortet schnell und mit Witz. Alles Mögliche habe er gemacht, seit 40 Jahren sei er im Geschäft, wie er sagt, „Kabarett, alles durch.“ Wie es denn sei, bloß mit alten Leuten zusammen zu spielen, frage ich. „Mit dem Alter“, sagt Werner, „nehmen wir es nicht so genau.“ Ob einer 40 sei oder 70, das spiele keine Rolle – weil man für alle eine Rolle finde. Man sei flexibel, wenn mal einer fehle, würde ganz schnell eingesprungen. Der Vorteil bei aus Improvisation entstandenen Szenen: Man kann sie ummodeln, muss nicht so textsicher sein. Wie er Text lerne, frage ich Werner. „Hauptsache, man weiß den Zusammenhang“, sagt er, „Wort für Wort, Zeile für Zeile, das ist hier nicht mehr.“ Und dass man das in seinem Alter für sich beanspruchen dürfe, sagt er auch noch.

2017 feierten die Sultaninen ihr zehnjähriges Jubiläum. „Offiziell“, sagt Hülya Karci. Eigentlich sei das Projekt noch älter. Mit einer Kollegin zusammen habe sie angefangen, erzählt die Theaterpädagogin. Die Grundlage ihrer Arbeit sei das Schöneberger Theater der Erfahrung gewesen. Es gehe ihr darum, die versteckten Potenziale älterer Menschen zum Vorschein zu bringen. „In den Scheinwerfer zu stellen“, sagt sie, „oder wie sagt man das?“ Zusammen sei die Gruppe gewachsen, „aufgewachsen“, sagt Hülya, als wäre die Gruppe ein Kind, das man gemeinsam erzieht. Und das Bild passt, denn wirklich scheinen hier alle an einem Strang zu ziehen. Eine Mitspielerin habe die Gruppe schon verloren, eine Polin, vor zwei Jahren sei sie verstorben. „Diese Menschen haben viel Erfahrung“, sagt Hülya. Das helfe beim Verfassen der Stücke. Aus Improvisationen zu gesellschaftlich relevanten Themen entwickle man gemeinsam Szenen, die sie dann niederschreibe. „Das führt auch zu Konflikten“, sagt Hülya, „manchmal streiten wir über schlichte Tatsachen, war es so, war es anders.“ Ihrem Interesse an der Vergangenheit, an türkischer und deutscher Geschichte, würde durch die Erzählungen der Darsteller und Darstellerinnen wie in einem gemeinsamen Geschichtsunterricht entsprochen. „Was wir brauchen sind Menschen, die Lust haben, Theater zu spielen“, sagt Hülya. Ist das Altern ein Thema in eurer Arbeit, frage ich. Und sie: „Weißt du, was eine der Spielerinnen zu mir gesagt hat? Das sei die einzige Gruppe – und sie habe in vielen gespielt – in der das Altern kein Thema sei. Und deswegen ist sie bei den Sultaninen geblieben.“ Die Themen der Sultaninen sind vielfältig: Gentrifizierung, Liebe und aktuell Koffergeschichten.

In einem Stuhlkreis nehmen alle Platz. Es ist die letzte gemeinsame Probe vor Weihnachten. Fünf Männer, fünf Frauen, zwei Hunde und Hülya. Geprobt wird in einem Mehrzwecksaal im Nachbarschaftsheim Neukölln, freitags von 10 bis 13 Uhr. Der Saal ist braun getäfelt, der Boden aus rotem Laminat. Große weiße Heizkörper sind an der Wand angebracht. Es gibt Kaffee und Tee, dessen Farbe lautstark verhandelt wird. Man bespricht sich, gibt sich Rückmeldung zur Aufführung, die am vergangenen Dienstag stattgefunden hat. Im Februar des Folgejahres soll die nächste Aufführung stattfinden. Dafür wird nun geprobt, das Stück soll weiterentwickelt werden, sein Titel: Kofferblues. Jemand sagt: „Den Koffer möchte ich gerne machen.“ Alle lachen. Man kennt sich gut, spielt schon über Jahre zusammen. „Solange die Beine gehen, kommst du“, sagt Werner zu Heinz. Man spricht sich Mut zu in dieser Runde. „Das ist eine schöne Vereinbarung“, sagt Gioia, „wer zuerst ein wenig beeinträchtigt ist, ist trotzdem willkommen. Alle spielen weiter mit.“ „Und irgendwann dann sterben die Menschen gar nicht mehr“, sagt Siegbert.

Das Thema ist nun nicht mehr das eigene Befinden, sondern die Zukunft der Menschheit. Wird es Krieg geben? Wird man 2030 schon auf dem Mond leben können? „Das ist ein super Thema für ein neues Stück“, sagt Gioia. Doch jetzt ist Probe und Irfan erzählt: „Am 1. April 1970 sind wir hierhergekommen, ich und mein Bruder. Mama und Papa waren schon hier.“ Zwölf Jahre war er da. „In Istanbul“, sagt Irfan, „sah ich das erste Mal eine Frau Autofahren.“ „Wie alt warst du da?“, fragt Hülya. „Zwölf.” Landung in Schönefeld, mit dem Bus nach Rudow an den Grenzübergang. Dort habe er für einen anderen Mann einen Koffer getragen, „Ich hatte ja keine Ahnung.“ Was in dem Koffer war? Er weiß es nicht, bis heute. Gemeinsam wird spekuliert. Um die Mitte ist Irfan etwas runder, sein Haar trägt er im Nacken lang. So fängt das nämlich an, sagt er jedes Mal, um seine Erzählungen einzuleiten. Dieses Erzählen ist Erinnerungsarbeit. Die anderen hören zu, fragen nach. Zuhören ist ein wichtiger Teil dieser Theaterarbeit. Dann erzählt Hatice: 1969 sei sie nach München gekommen, mit einem Holzkoffer, darin zwei Hosen. Ihr Mann war zu dem Zeitpunkt bereits verstorben, eine junge Witwe mit Kindern war sie, die alleine nach Deutschland kam, um Geld für die Familie zu verdienen. „Und die Hosen“, fragt Beate, „hast du die auch in der Türkei getragen?“ Hatice kichert. „Ja“, übersetzt Hülya, „sie sagt das hat sie. Aber nur mit Kleid darüber.“ „Wollte man all das aufarbeiten“, sagt Heinz, „man bräuchte viele Leben dafür.“ Mehr als eines zumindest. Hier wird Geschichte verhandelt. Wiederholt sie sich? Was ist die historische Rolle Deutschlands, in Polen, in der Türkei? Eine gemeinsame Antwort gibt es nicht. Aber es gibt das gemeinsame Theaterspiel, von Anfang an.

„Waltraud zum Beispiel“, sagt Hülya, sei schon seit zehn Jahren dabei. „Ich heiße Waltraud“, sagt sie zu Beginn unseres kurzen Gesprächs. „Und ich bin jetzt 75.“ 2003 sei sie nach Berlin gezogen, erst in den Schillerkiez, dann in den Wedding. In einem Seniorenhaus mit Fahrstuhl lebe sie jetzt. Wie sind Sie denn zu dieser Theatergruppe gekommen, frage ich und sie sagt: „Da gab es die Theatergruppe noch gar nicht.“ Zwei Jahre habe es gedauert, bis die Gruppe in ihrer jetzigen Konstellation zustande gekommen sei. Vom Schöneberger Theater der Erfahrung, noch mit einem anderen Leiter, sei die Initiative ausgegangen, aber zunächst im Sand verlaufen. Später habe sie einen Anruf erhalten und habe dem Ganzen noch eine Chance gegeben.

Der Tag ist strahlend schön. Vor der Glasfront des Nachbarschaftsheims in der Schierker Straße spielen Kinder aus der Kita. Manchmal klopfen sie laut an die Fenster. Waltraud legt dann ihre Hand ans Fenster. Theater, sagt sie, sei für sie Therapie gewesen. Etwas auszuprobieren, das sie noch nie gemacht habe. „Und mal zu kucken, was es wird“, sagt sie. Sie spiele noch in einer anderen Gruppe, Vergissmeinnicht, mit Demenzkranken. Gibt es einen Punkt, an dem sie selber aufhören würde mit Theater? „Nö“, sagt Waltraud, „solange es mir Spaß macht, spiele ich.“

Waltrauds zwei Hunde sind stille Gäste bei dieser Theaterprobe. Heinz kichert, als einer der Hunde sich suchend umdreht, nachdem er ihn von hinten angetippt hat. Alter Trick, funktioniert immer wieder. Bevor ich Heinz interviewe, sagt er: „Mein Gedächtnis spielt verrückt.“ Hülya ruft ihn vor jeder Theaterprobe an, um ihn daran zu erinnern, dass Theaterprobe ist. Manchmal, sagt sie, rufe Heinz sie auch mitten in der Nacht an. Weil die Uhrzeit keine Rolle mehr für ihn spiele. „Er kann nicht so Zeitgefühl“, sagt sie. „Du heißt Heinz“, sage ich, „und bist mittlerweile 80 Jahre alt.“ „79“, sagt Heinz, und wir lachen beide. Dass ich ihn nicht älter machen wolle, sage ich. Als ich ihn frage, wie lange er schon bei den Sultaninen sei, ruft Heinz zu Hülya, „Hülya, wie lange bin ich schon dabei, vier, fünf Jahre?“ „Acht“, sagt Hülya. „Acht Jahre“, wiederholt Heinz. Dass er im Theater gut gewesen sei, sagt Heinz auch und dass es gerade erst anfange, mit dem Gedächtnis. Text für mehrstündige Stücke habe er auswendig gekonnt. „Nun merke ich“, sagt er, „wie ich abbaue.“ Was magst du am Theaterspielen, frage ich. „Dass ich mich in den Mittelpunkt bringe. Sonst wäre ich nichts“, sagt Heinz. „Theater ist Theater“, und dass es keine Rolle gebe, die er lieber spiele als alle anderen. Ob es denn einen Punkt gebe, an dem er aufhören wolle mit Theater, frage ich. „Wenn man 79 ist“, sagt Heinz, „dann kann man mit allem rechnen. Muss man“, sagt er. „Dann muss man mit allem rechnen.“

Dieser Text ist im März 2018 in unserem Magazin „Mensch Alter. Geschichten übers Alt Werden im Schillerkiez“ veröffentlicht worden.