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Stille Leitung – Von alten Telefonzellen und der Liebe zu Büchern

Fotos: Anke Hohmeister

Sobald die schwere Schwenktür langsam ins Schloss fällt, kehrt eine wohltuende Ruhe ein.  Die Geräusche der Straße sind gedämpft, man fühlt sich augenblicklich wie abgeschirmt von der Umgebung. In einer Telefonzelle zu stehen ist eine Art öffentlich zelebrierter Intimität: Auf rund einem Quadratmeter Fläche ist man für sich und trotzdem für alle Welt sichtbar. Ein nostalgisch anmutendes Paradoxon. Schließlich lässt sich die oft muffig riechende Enge und Geborgenheit, die so typisch für die gelben oder magenta-grauen Telefonhäuschen ist, nur noch an wenigen Orten in Berlin erfahren. Im Schillerkiez haben AnwohnerInnen und BesucherInnen gleich zweimal die Möglichkeit sich der heimeligen Atmosphäre der Zellen hinzugeben.

Am Herrfurthplatz wurde vor sechs Jahre eine so genannte „Bücherboxx“ aufgestellt. Das bunt angemalte Häuschen ist mit Solarpaneelen bedeckt und enthält eine wechselnde Auswahl  an Büchern, die bei Bedarf mit nach Hause genommen werden können. Eine zweite Telefonzelle steht am Rande der Gemeinschaftsgärten auf dem Tempelhofer Feld. In der „Storyboxx“ gibt es neben Büchern einen wertvollen Fundus an Geschichten. Über ein fest installiertes und robustes Abspielgerät erklingen per Tastendruck Zeitzeugenberichte  und Anekdoten über das Tempelhofer Feld.

Zwei Männer engagieren sich seit Jahren leidenschaftlich und ehrenamtlich für den Erhalt und die Bestückung der „Boxxen“: Matthias , 61 Jahre alt, Lehrer und gelernter Schreiner und Jürgen, 66 Jahre alt, Antiquar und Buchhändler bezeichnen sich selbst als Kümmerer. Der eine kümmert sich vor allem um die Form und der andere um den Inhalt der umfunktionierten Telefonhäuschen. Im Interview erzählen sie, warum es sich lohnt zu lesen, ob es bei der Bestückung der „Boxxen“ eine Zensur gibt und was sie bei ihren ehrenamtlichen Tätigkeit antreibt.

Beim Blick in die Regale der „Bücherboxxen“ fällt schnell auf, dass hier auf eine ausgewogene Mischung der Genres wert gelegt wird. Neben Klassikern, gibt es Rezept-, Sach- und Kinderbücher, aber auch Reiseführer und sogenannte leichte Literatur. Von welchen Kriterien hängt eure Auswahl ab?
Jürgen: Geschmäcker sind ja bekanntlich ganz unterschiedlich – da hat erstmal jedes Buch seine Berechtigung. Neulich habe ich zum Beispiel mal einen Meter „Angelique“-Romane reingestellt, die waren ruckzuck weg. Eine Zensur gibt es bei uns also nicht.  Wenn allerdings mal tendenziöse Literatur drin wäre, also irgendwelche Nazi- oder Propaganda-Sachen, die würde ich auf jeden Fall rausnehmen.

Aus welchem Fundus wählt ihr die Bücher aus?
Matthias: Ich habe immer schon sehr viele Bücher geschenkt oder auch vererbt bekommen und mich mit Jürgen darauf geeinigt, dass ich die nicht gleich in die „Boxx“ bringe, sondern erstmal zu ihm. Er guckt dann, was er noch brauchen kann und stellt den Rest rein. Ansonsten bestücken auch Nachbarn manchmal in Eigenregie und natürlich verfügt Jürgen als Antiquar über einen Fundus, aus dem er immer mal Bücher aussortieren kann.

Foto: Anke Hohmeister

Jürgen: Als das Projekt vor sechs Jahren im Quartiersrat vorgestellt wurde, war ich – das muss ich ehrlicherweise zugeben – zunächst skeptisch, weil ich die „Bücherboxx“ als Konkurrenz gesehen habe. Ich war ja damals mit meinem Antiquariat noch direkt am Herrfurthplatz und hatte immer Samstags auf dem Wochenmarkt meinen Bücherstand und dachte, dass es irgendwie kompliziert werden könnte Bücher zu verkaufen, während gleichzeitig ein paar Meter weiter weg eine „Boxx“ steht, wo es alles kostenlos gibt. Wir haben uns im Kümmererkreis dann aber schnell darauf einigen können, dass ich bei Buchspenden eine Vorauswahl treffen kann. Wenn ein Buch zum Beispiel im Originalpreis 50 Euro gekostet hat und es sich noch anderweitig verkaufen lässt, tue ich es nicht mit rein. Das gleiche gilt aber auch für schmutzige oder sehr ramponierte  Bücher.

Wie oft müssen die Bücherregale aufgefüllt werden?
Jürgen: Ich bin zur Zeit zweimal in der Woche da. Gerade Montags, nach den Wochenenden, sind die „Boxxen“ immer ziemlich leergefegt. Gestern habe ich zum Beispiel insgesamt rund 50 Bücher aufgefüllt. Die hatte ich in einem Trolley, so einem großen Einkaufswagen, verstaut und bin damit dann beide Standorte abgefahren.

Matthias: Ich wohne ja schon lange in Hermsdorf, versuche aber nachwievor regelmäßig im Schillerkiez zu sein.  Durch meine Zeit als Lehrer an der Carl-Legien-Schule in der Leinestraße und im Quartiersrat fühle ich mich immer noch verbunden mit der Gegend und habe auch viele Bekannte, die hier leben. Immer wenn ich hier bin, schaue ich natürlich nach nach den „Boxxen“. Als die Bänke vor der „Bücherboxx“ am Herrfurthplatz nach dem Sommer ziemlich ramponiert waren, habe ich die zum Beispiel erneuert. Ansonsten habe ich generell ein Auge auf den technischen Zustand, mache kleine Reparaturen oder entferne auch die ganzen Klebezettel an den Scheiben und der Tür, wenn es zu viel wird.

Wieviel Putzarbeit müsst ihr generell leisten, um die „Boxx“ in Ordnung zu halten?
Jürgen: Es geht. Manchmal werden Geschenkkisten mit Klamotten und Spielsachen abgeladen. Das ist einerseits ganz nett, aber oft liegt dann die Hälfte draußen, um die „Boxx“ herum oder auch direkt vor der Kirche. Das sieht dann unordentlich aus und muss dann natürlich weggeräumt werden.

Matthias: Eine Zeit lange hat sich hier am Herrfurthplatz auch immer eine Gruppe von Trinkern aufgehalten. Die sind inzwischen weg.
Jürgen: Aber die haben sich um die Box gekümmert. Wenn Müll da lag, haben sie den beseitigt und manchmal auch drumherum gefegt. Sie haben die „Boxx“ beschützt und auf der Bank nebendran ihre philosophischen Gespräche geführt.

Matthias: So eine „Bücherboxx“ ist schon ein Stück Stadtteilkultur. Auch das Engagement dafür ist eine tolle Erfahrung. Auch wenn es immer wieder auch mal Rückschläge gibt.

Jürgen: Es gab wohl sogar schonmal eine Schlägerei, weil sich zwei Leute um Bücher gestritten haben.

Foto: Anke Hohmeister

Wisst ihr, um welche Bücher es ging?
Jürgen: Nein, nicht genau. Es kommen immer mal wieder so halbprofessionelle Händler, die mit ihren Handys die Barstrichcodes abscannen und prüfen, ob sich noch irgendwas gut im Internet verkaufen lässt. Und irgendwie gab es dann eine Aggression zwischen zwei Händlern, bei der wohl ein Zahn ausgeschlagen wurde und einer der beiden  sein Pfefferspray rausgeholt hat. Das ist schon absurd. Es eine Geschenk- und keine Wiederverkaufsbox, wo man die Bücher in Massen abschleppen kann.

Habt ihr nach solchen Vorkommnissen jemals an eurem Engagement gezweifelt oder überlegt als Kümmerer aufzuhören?
Beide zusammen: Nein, auf keinen Fall!

Welche Bedeutung hat für euch, ganz persönlich, das Medium Buch?
Jürgen: Ich bin mit Büchern groß geworden. In der Familie hatten wir immer viele Bücher und ich habe schon in der Schulzeit viel lieber gelesen als Schulaufgaben zu machen. Da lag der Beruf des Buchhändlers nicht so fern.

Matthias: Ich lese auch unheimlich gerne und finde es zudem extrem schade Bücher wegzuschmeißen. Das ist auch das schöne an den „Bücherboxxen“. Sie sind einfach nachhaltig.

Und gibt es in eurem Leben ein Buch, von dem ihr sagen würdet, dass es euch nachhaltig beeindruckt oder sogar verändert hat?
Matthias: Bei mir ist das „Soweit die Füße tragen“ von Josef Martin Bauer. Da geht es um einen Soldaten, der aus einem Arbeitslager in Russland flieht und nach Hause läuft. Das hat mich nachhaltig beeindruckt.

Jürgen: Ich habe viel Karl May gelesen. In seinen Romanen schwingt so viel Toleranz mit – gegenüber Menschen unterschiedlichen Herkunft und Rasse, gegenüber Konfessionen und Religionen. Das hat mein Weltbild geprägt.

Dieses Interview ist im Dezember 2018 in unserem Magazin „Kiezköpfe“ erschienen. Die „Bücherboxxen“ im Schillerkiez wurden im zweiten Quartal 2019 abgebaut. Der Wiederaufbau der „Boxx“ am Herrfurthplatz ist zukünftig geplant. Ein genauer Zeitpunkt steht bisher noch nicht fest.