In Hochglanzmagazinen geht es um das schickste Sofa und die schönste Einbauküche, in Berlin geht es schlichtweg darum, überhaupt Wohnraum zu finden. Carmel von der Initiative „Deutsche Wohnen und Co. enteignen!“ (kurz DWE), die einen Volksentscheid
angestoßen hat, und Raoul, der einer Baugruppe angehört, diskutieren über verschiedene Ansätze, der Wohnungsnot zu begegnen.
— Interview von Claire Horst
Raoul, wie seid ihr als Baugruppe organisiert?
Raoul: Wir sind 20 Erwachsene und 17 Kinder. Ursprünglich haben wir gedacht, dass es ein Haus für Bewohner:innen von Bewohner:innen wird. Um den Kauf zu stemmen, mussten wir aber auch Leute suchen, die Kapital haben und flexibel sind. Das bedeutet, dass einige von uns Eigentümer:innen sind, aber vermieten werden. Im Nachhinein hätte ich eine genossenschaftliche Variante wünschenswert gefunden. Aber so ein großes Risiko einzugehen, wenn es danach kein Eigentum wird, hätten viele nicht mitgemacht, und es hätte mehr Vorlauf gebraucht.
Carmel, wie hat sich der Kiez hier in den letzten Jahren entwickelt?
In Neukölln haben sich die Mietpreise in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Das hat Einfluss auf alle, die hier leben: Wie viel kostet es einen Kaffee trinken zu gehen, ein Bier zu trinken, einen Döner zu essen? Es ist unfassbar schwer, eine Kita zu finden. Das wird sich nicht ändern, solange die Gewerbemieten so hoch sind. Die Leute werden immer ärmer, weil sie immer mehr Geld für die Miete ausgeben müssen.
Viele Wohnungen im Kiez wurden an Investoren verkauft. Und die großen Immobilienkonzerne tun nichts, damit es den Leuten gut geht. Sie wollen die Altmieter:innen raus haben, um die Mieten zu erhöhen. Zum Beispiel werden dann Heizungen, die im Winter ausfallen, einfach nicht repariert. Dabei bringen wir das Geld für Sanierungen jeden Monat auf. Es heißt Miete. Nur wird es jeden Monat dafür genutzt, Rendite zu zahlen, und nicht, um Heizungen einzubauen.
Raoul: Ich finde es auch gut, wenn sich der Staat mehr engagiert und habe den Volksentscheid unterstützt. Der Markt regelt es einfach nicht. Deswegen muss der Staat selber bauen.
Carmel: Wenn profitorientierte Immobilienkonzerne bauen, entstehen keine bezahlbaren Wohnungen. Damit das aufhört, wollen wir vergesellschaften. Wir sind für die Überführung der Wohnungen in eine Anstalt öffentlichen Rechts. Sobald die Wohnungen abbezahlt sind, können die Mieteinnahmen genutzt werden, um neue Wohnungen zu fairen Marktpreisen zu bauen. Nicht zu Spekulationspreisen, wie das jetzt passiert.
Ist mit den bestehenden Gesetzen sozial verträgliches Bauen gar nicht möglich?
Raoul: Die Kosten müssen ja langfristig auf die Vermietung umgelenkt werden. Man macht einen Vertrag mit der Bank über die Finanzierung. Die bietet einem an, das bis zum Arbeitsende abzubezahlen. Dann muss ich mir überlegen, wie schaffe ich das abzubezahlen, innerhalb von einem Berufsleben oder innerhalb von fünf Berufsleben.
Carmel: Die Genossenschaften schaffen das. Sie bauen neue Wohnungen, die sie für 6,50 Euro pro Quadratmeter vermieten. Es ist eine Entscheidung, dass das Geld nicht über einen kurzen Zeitraum wieder reinkommen muss. Diese Entscheidung muss vom Staat kommen oder gemeinschaftlich getroffen werden.
Was habt ihr mit DWE bisher erreicht, und wie geht es weiter?
Carmel: Mehr als eine Million Menschen haben für die Vergesellschaftung gestimmt. Das sind mehr Stimmen als die aktuellen Regierungsparteien insgesamt bekommen haben. Wir machen jetzt Druck, damit das umgesetzt wird. Etliche Gutachten haben schon belegt, dass es rechtlich möglich ist.
Raoul: Man muss die Konzerne entschädigen, und das ist ja eine enorme Summe. Inwiefern besteht da die Gefahr, dass das am Ende dann doch wieder bei den Bürger:innen landet?
Carmel: Der Senat hat schon gesagt, dass nicht der Marktpreis bezahlt werden würde, weil das der Spekulationspreis ist. Wir peilen eine Entschädigungssumme von 8 Milliarden an. Und die Stadt wird sich dafür nicht verschulden, sondern es wird über die Mieten abbezahlt.
Raoul: Wenn man so ein Enteignungsverfahren macht, schreckt man
viele Investoren ab. Das ist ja auch gut. Aber es stellt auch eine Bedrohung für den Markt Berlin dar.
Carmel: Es ist an der Zeit, dass die Politik den Mut hat, für ihre Wähler:innen mehr zu tun und nicht nur für die Großkonzerne. In unserem Grundgesetz ist vorgesehen, dass zum Wohle der Allgemeinheit und zum Zwecke der Vergesellschaftung enteignet werden kann, wenn die
Bevölkerung in einer Notlage ist. Und dass Menschen keine Wohnung finden, ist eine absolute Notlage.
Was ist eure Utopie? Was wäre schöner Wohnen für euch?
Carmel: Wir wollen Menschen ermöglichen, in Berlin zu Hause zu sein, im Winter nicht zu frieren. Die Utopie ist, dass man weiß, man wird sein Leben lang ein Dach über dem Kopf haben. Wohnungen in Gemeineigentum.
Raoul: Schöner Wohnen ist eine gute Nachbarschaft, eine gemütliche Sitzgelegenheit, ein Kaffee und gute Musik. Ausreichend Kitaplätze, eine Schule, der man vertraut. Dass man sich ein Ei borgen kann, dass jemand mal für einen einkaufen geht, bei Corona was vor die Tür stellt. Dass man sich unterstützt und offen ist für die Leute, die um einen herum leben. Ganz einfach eigentlich.
Carmel: Das sind auch unsere Ziele, was du beschreibst: eine Community zu haben, in die man eingebunden ist. Dass man angemessenen Wohnraum hat, ohne dass man sich das mit so viel Mühe erkämpfen muss, selbst wenn man in einer privilegierten Position ist. Dass alle das haben,
einfach weil es ein Grundrecht ist.
Wohnen und Wohnen lassen — Glossar:
Deutsche Wohnen und Co. enteignen
DWE ist eine Initiative von Einzelpersonen und unterschiedlichen Bündnissen, die sich für die Vergesellschaftung von Wohnraum in Berlin einsetzen. Wohnungen von profitorientierten Immobilienkonzernen mit mehr als 3.000 Wohnungen sollen enteignet und in öffentliche Hand überführt werden. Diese sollen dann demokratisch verwaltet und zu fairen Preisen vermietet werden. DWE hat dafür einen erfolgreichen Volksentscheid auf den Weg gebracht: Am 26. September 2021 stimmten 59,1% der Berliner:innen für die Vergesellschaftung.
Nun ist der Berliner Senat gefordert: Er muss den Volksentscheid zügig umsetzen und ein Gesetz
zur Vergesellschaftung erarbeiten. In der Initiative engagieren sich berlinweit etwa 2.000 Personen. — weitere Infos und mitmachen unter: dwenteignen.de/mitmachen
Was ist eine Baugruppe?
Eine Baugruppe ist ein Zusammenschluss von Personen, die gemeinsam ein Grundstück gekauft
haben und bebauen. Es gibt unterschiedliche Organisationsformen: In einer GbR gehört das Grundstück erst einmal allen. Wenn das Haus errichtet ist, wird es in einzelne Eigentumswohnungen aufgeteilt.
Genossenschaften und Mietshäusersyndikat
Andere Gruppen finanzieren ihr Haus über die Mitgliedschaft in einer Genossenschaft oder über das Mietshäusersyndikat (www.syndikat.org). Solche Häuser werden nicht zu Privateigentum,
sondern bleiben Gemeineigentum. Auch da gibt es unterschiedliche Modelle.