Donauwelle 6
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Damals in der Stadt, damals auf dem Land

Zwei Nachbarinnen und ein Nachbar erinnern sich an Ihre Erfahrungen mit der Not und Lebensmittelknappheit in der Nachkriegszeit. Sie erzählen von extremer Kälte, Kaffee aus Eicheln und Spinat aus Wildkräutern. 

Ein Vierteljahr Mehlsuppe

“Wenn ich an Armut und Not denke, muss ich immer daran denken, wie wir als Kinder gehungert haben. Die Lebensmittelkarten waren sehr knapp bemessen und wer keine Beziehungen zu irgendwelchen Leuten hatte, denen es etwas besser ging, der war arm dran. Es gab kein Amt, wo man sich etwas holen konnte, wie es heute möglich ist. Meine Eltern sind um 5 Uhr früh vom Hermannplatz aus bis zum Anhalter Bahnhof gelaufen, es gab ja kein Verkehrsmittel, um dann ins Umland von Berlin zu fahren und dort irgendwelche Sachen gegen Essen einzutauschen. Die Züge waren derart voll, dass die Leute auf den Trittbrettern gestanden haben. 

Unsere Eltern haben in den Grünanlagen Melde, Brennesseln und Blattspitzen von Holundersträuchern gesammelt und daraus Spinat gekocht. Kartoffelschalen wurden von Hausbewohnern gesammelt, noch mal abgeschält und in die Speisen gekocht. Zuckerrüben wurden in der Waschküche in Kesseln gekocht. Es dauerte 6 bis 7 Stunden, bis daraus Sirup wurde, der dann wieder gegen etwas anderes zum Essen eingetauscht wurde. Aus Eicheln wurde Kaffee gemacht. Mutter verkaufte iIhre goldene Uhr für zwei Zentner Weizen, der dann zu Mehl mit der Kaffeemühle gemahlen wurde. Nun gab es ein Viertel Jahr Mehlsuppe. Graupen mal süß mal sauer… lch kann heute noch nicht Graupen essen! Aus alten Sachen wurden neue gemacht, Pullover wurden aufgeräufelt und aus der Wolle ein neuer gestrickt. Schuhe wurden mit alten Gummis von Autoreifen besohlt. Die Eltern haben bei den Bauern Reparaturen gemacht, so sind wir über die Runden gekommen.”

— erzählt von Hans und Reni Babkuhl

Ein brennendes Gefühl in der Brust

“Ich erinnere mich nicht, an Armut gelitten zu haben, in den Fünfziger Jahren. Natürlich waren wir eine große Familie mit 5 Kindern. Wir wohnten in einer Werkssiedlung im Bergischen Land, direkt neben der Feuerzeugfabrik, in der der Vater arbeitete. Wir hatten ein Stück Garten, große Rasenflächen, auf denen wir eigentlich nicht spielen durften, es aber natürlich trotzdem taten. Am Rand der Siedlung ein riesiges Rübenfeld und ein Kirschbaum, auf den wir gerne kletterten und die Kirschen aßen.

Erst in der Schule, im Vergleich zu anderen Schülern, die aus „besseren Verhältnissen“ kamen, entstand manchmal so ein brennendes Gefühl in der Brust, das weh tat. Ich selbst trug eine Woche lang dieselbe Kleidung, andere Mädchen trugen alle zwei Tage neue Kleidung. Auf Klassenfahrten konnte ich nie mit, weil das Geld dafür nicht reichte. Ich sah aber, dass andere Schüler große Tüten voller Süßigkeiten mitnahmen. Nur Ruth, die Tochter des Lumpenhändlers, erlebte Ähnliches. Wir gingen dann gemeinsam spielen, tobten herum und vergaßen schnell, was wir erlebt hatten.”

— erzählt von Elsa M. Heindrichs

Über die Illustratorin Irit Mogilevsky

Ich bin eine in Neukölln lebende, autodidaktische Illustratorin. Ich liebe es, verschiedene Stile und Medien zu erforschen und zu kombinieren, sowohl in der analogen als auch in der digitalen Welt. Meine Illustrationen und kurzen Comics sind von existentieller Philosophie und absurdem Humor inspiriert.

https://iritmogilevsky.com/


Dieser Beitrag erschien in der 6. Ausgabe der Donauwelle im Dezember 2022. Die Donauwelle wurde im Rahmen des Projektes „Donaukiez macht Medien“ erstellt. Gefördert durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil, Teilprogramm Sozialer Zusammenhalt. 

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