Donauwelle 6
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“Kein Gras drüber wachsen lassen” 

Ferat Kocak ist 1979 in Kreuzberg geboren und in Neukölln aufgewachsen. Er engagiert sich gegen Rassismus und für Klimaschutz und wurde 2018 Opfer eines rechtsextrem motivierten Brandanschlags. Seit 2019 ist er Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. 

— Interview von Claire Horst

Warum sind in Neukölln so viele Menschen so arm – und warum ändert sich so wenig daran?

Als Berlin noch eine geteilte Stadt war, haben in Neukölln Menschen gelebt, die woanders nicht willkommen waren. Jetzt ziehen Leute her, die mehr Geld haben. Und die Menschen, die Neukölln zu dem gemacht haben, was es ist, werden verdrängt. Das ist einer der zentralen Gründe, warum es schwer ist, die Armut hier wirklich zu bekämpfen. Durch Zuzug und Verdrängung ändert sich zwar die Statistik. Den Armen ist damit aber nicht geholfen.

Ich beobachte vor allem die Armut unter Menschen mit Migrationsgeschichte, oft aufgrund von Rassismus. Sie werden auf dem Arbeitsmarkt und in der Bildung benachteiligt. Dazu eine einfache Geschichte: In der ersten Klasse sollte ich auf die Sonderschule geschickt werden. Meine Eltern haben das nicht hingenommen. Als mich die Lehrer*innen später auf die Realschule schicken wollten, haben sie gesagt: Nein, unser Kind geht auf das Gymnasium. Sie haben sich viel Zeit genommen, um mich zu unterstützen. Das können heute viele Familien nicht. Da arbeiten beide, das Leben ist viel teurer. Das Sozialsystem ist komplizierter geworden. Es gibt nicht genug Kita- und Schulplätze und Wohnungen. Die Leute haben keine Ressourcen, sich wirklich um ihre Kinder zu kümmern. Deshalb brauchen wir beispielsweise an Schulen viel mehr Menschen, die nicht nur den Lehrplan durchpauken, sondern auch auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen.

Welche Möglichkeiten siehst du noch, sich gegen Armut einzusetzen?

Wir brauchen den Druck von unten, damit die Politik etwas verändert. Wenn in den letzten Jahren nicht Klimaaktivist*innen hunderttausendfach auf den Straßen gewesen wären, wäre das Thema Klima nicht so präsent in allen Wahlprogrammen. Genauso ist es mit den Themen Armut und Antirassismus. Wir haben jetzt eine Chance, aufgrund der steigenden Preise, der Gaskrise und der Inflation mehr Druck zu machen. Wir müssen klarmachen: Wir sitzen zwar alle im selben Boot – manche Leute sind aber stärker von der Krise betroffen, sei es aufgrund des Geschlechts, sei es aufgrund der Herkunft oder der Religion. 

Für dein Engagement gegen Rassismus bist du zur Zielscheibe von Neonazis geworden. Deine Eltern und du habt einen Brandanschlag überlebt. Aktuell bist du Zeuge im Prozess zur Neuköllner Anschlagsserie. Wieso erhalten diese Anschläge so wenig Aufmerksamkeit – berlinweit, aber auch deutschlandweit?

Meine Einschätzung ist, dass vor allem Behörden, Politik, aber auch Teile der Presse einfach wollen, dass Gras darüber wächst. Es ist immer ein Kraftakt für Betroffene, daran zu erinnern, was passiert ist. Wir haben sehr für den Untersuchungsausschuss zur Anschlagsserie gekämpft. Er bekommt bundesweit einigermaßen Gehör, weil wir uns mit anderen Initiativen vernetzen. Aber es ist immer noch zu wenig. Um mehr zu tun, bräuchten wir mehr Unterstützung. Wir müssen uns als Zivilgesellschaft zusammen gegen Nazis zur Wehr setzen, sonst haben wir aus der Geschichte nichts gelernt. Wir sehen ja gerade, wie rechte Parteien in ganz Europa angesichts der Wirtschaftskrise versuchen an Raum zu gewinnen.

Woher nimmst du deine Kraft?

Nach dem Anschlag bin ich in die Offensive gegangen. Dabei habe ich viel Unterstützung erfahren. Mein Körper ist mittlerweile wie der Akku von einem alten Handy: Ich brauche eine Woche zum Aufladen und nach einer halben Stunde ist das Ding wieder leer. Aber die Solidarität hat mir Kraft gegeben.




Hintergrundinformationen zur rechten Anschlagsserie in Neukölln

Im Februar 2018 verübten Neonazis einen Brandanschlag auf das Auto von Ferat Kocak. Das Feuer griff auf das Wohnhaus über, in dem seine Eltern schliefen. Zum Glück konnte es rechtzeitig gelöscht werden. In der gleichen Nacht wurde auch ein Anschlag auf den Neuköllner Buchhändler Heinz Ostermann verübt. Er engagiert sich wie Kocak gegen Rechtsextremismus.

Diese beiden Angriffe stehen in einer Reihe mit über 70 weiteren, die in Neukölln auf antifaschistisch engagierte Menschen verübt wurden. Auch  die syrische Bäckerei Damaskus in der Sonnenallee ist betroffen. Dort wurden unter anderem Hakenkreuze gesprüht.

Inzwischen wurde  ein Untersuchungsausschuss im Abgeordnetenhaus eingerichtet. Dieser soll klären, ob es gravierende Fehler bei den Ermittlungen durch Justiz und Polizei gab. Der Beschluss dazu kann hier eingesehen werden: https://www.parlament-berlin.de/Ausschuesse/19-1-untersuchungsausschuss-neukolln. Ferat Kocak ist stellvertretendes Mitglied in dem Ausschuss.

Am 29. August 2022 hat auch der Prozess gegen fünf Tatverdächtige begonnen, unter ihnen das ehemalige Neuköllner AfD-Mitglied Tilo P. und der ehemalige NPD-Politiker Sebastian T. Ferat Kocak ist als Nebenkläger vertreten.



Dieser Beitrag erschien in der 6. Ausgabe der Donauwelle im Dezember 2022. Die Donauwelle wurde im Rahmen des Projektes „Donaukiez macht Medien“ erstellt. Gefördert durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil, Teilprogramm Sozialer Zusammenhalt. 

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