Frau Holm (Name von der Redaktion geändert), Lehrerin an einer Gemeinschaftsschule, gibt uns Einblick in einen ganz normalen Tagesablauf.
Es ist 7:30 Uhr. Ich sehe das Bild eines toten Kindes in Gaza. Es ist ein Versuch, dem Arbeitsweg in der U8 zu entfliehen. Es führt dazu, dass ich direkt in Gedanken beim System Schule und den Schüler*innen ankomme. Schaffe ich Gehör für Meinungen, für Sorgen und für Unrecht? Darf ich als Lehrerin politisch sein? Muss ich es sein?
Ich komme zu spät. Das passiert mir manchmal.
Hanife: „Frau Holm, Sie sind zu spät! Ich rufe Ihre Eltern an!“
Ich: „Wenn Du möchtest, kannst du mir auch einen Eintrag in mein Notizbuch
schreiben. Ich habe ADHS und manchmal fällt es mir schwer, mich zu organisieren.“
Sude ruft aus der letzten Reihe: „ICH habe ADHS? FRAU HOLM!!! Habe ich nicht! Das ist gemein. Ich habe das gehört.“
Ich: „Nein Sude, ich meinte nicht dich. Ich meine mich.“
Sude: „Achso. Sie haben das? Wirklich? Ich glaube Emir hat das auch.“
Emir: „Habe ich nicht! Halt die Fresse!“
Der Unterricht beginnt. Ich hantiere mit laminierten Postern und diversen Magneten herum. Darauf stehen Ziele, die ich für die Klasse festgelegt habe. Die Schüler*innen dürfen sich ein Ziel für die Stunde aussuchen. Ich denke nicht, dass sie das wollen. Aber ich habe gelernt, dass sie es wollen. Es schafft Routine und einen positiven Fokus. Anders als Regeln. ETEP nennt sich dieses Konzept, gut geeignet für „herausfordernde“ Klassen. Susanne, die ETEP-Leiterin, sagt, dass alle Kinder lernen und gemeinsam Dinge erreichen wollen. Das weiß ich. Ich glaube, die Schüler*innen wissen es aber noch nicht.
Susanne: „Es fehlt ihnen nur an richtiger Unterstützung.“ Das weiß ich auch. Auf einem Poster für mich müsste stehen: „Ich komme pünktlich zur Arbeit.“
Nun sammelt Ali alle Handys ein und legt sie in die Handygarage. Anders geht es nicht. Ali sagt schließlich: „Alle haben ihre Handys abgegeben und alle Materialien zum arbeiten bereit.“ Ich schaue auf leere Tische. Ali: „Achso, Sie meinten wirklich alle Materialien?“
Später reden wir im Team-Meeting über Ali. Mein Kollege Timo sagt: „Der braucht ‘ne Diagnose. Der hat AD … wie heißt das nochmal?“
Ich: „Timo, es heißt ADS oder ADHS.“
Timo: „Ja, genau das. Und bei Sahra geb’ ich auf. Die findet nicht mal pünktlich den Klassenraum.“
Ich atme tief ein und aus.
Ja, Sahra kam oft zu spät. Der Fahrstuhl funktioniert nicht und sie konnte mit dem Rollstuhl nicht rechtzeitig zum Klassenraum kommen. Der Fahrstuhl funktioniert nur punktuell. Einen gibt es in der Schule mit 1400 Kindern. Ich nutze ihn nicht, denn ich habe Sorge nicht mehr raus zu kommen.
Der Unterricht beginnt nun wirklich. Zeynep möchte sich die Nase putzen. Lara muss auf Toilette. Furkan haut mit einem Lineal auf den Tisch. Zehra wird aus dem Raum gebeten, um eine Aussage zu einer Prügelei zwischen zwei Schülern zu machen. Havin liegt auf dem Tisch eines anderen Schülers.
Ich denke daran, dass jeder die „richtige“ Unterstützung braucht. Eigentlich möchte ich aber lieber schreien. Weder Zeit, Raum noch Personal sind annähernd angemessen, um interessengeleitetes, individuelles Lernen zu ermöglichen. Und doch versuche ich es. An einem Ort, an dem Berlin versagt. Menschen, die Chancen brauchen, um zu wissen, dass Lernen und Wissen stark machen und um zu sehen, was sie alles wirklich können, werden unwissend zurückgelassen.
Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 28. Juni 2024 in der Donauwelle 09 erschienen. Die Donauwelle wurde im Rahmen des Projektes „Donaukiez macht Medien“ erstellt. Dieses Projekt wird gefördert durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin im Rahmen des Städtebauförderprogramms Sozialer Zusammenhalt – Zusammenleben im Quartier gemeinsam gestalten.