Philipp Dehne hat als Lehrer in Kreuzberg und Neukölln gearbeitet und 2021 die Bildungsinitiative “Schule muss anders” mitbegründet. Im Interview spricht er über die Bildungskrise, Chancen und Herausforderungen in Neukölln und darüber, wie du aktiv werden kannst.
Interview von Wiebke Heiber
Warum muss Schule anders?
Das ist eine geteilte Erfahrung von allen Leuten, die im Schulkontext sind: von Schüler*innen, Schulbeschäftigten und Eltern. Es gibt so viel Druck und Stress. Viele können nicht so arbeiten, wie sie es eigentlich wollen, das heißt mit Zeit auf alle Schüler*innen eingehen. Für die individuelle Förderung braucht es Rahmenbedingungen und natürlich eine pädagogische Haltung. Die jetzigen Rahmenbedingungen führen oft dazu, dass Kinder hinten runterfallen und nicht die Lebenswege wählen können, die sie gerne wählen würden.
Was soll genau anders?
Es braucht einfach mehr Zeit für die Arbeit in der Schule, für die Beziehungsarbeit mit den Schüler*innen, aber auch für die Teamarbeit im Kollegium. Dafür braucht es mehr Personal an den Schulen und eine verlässliche finanzielle Ausstattung. Außerdem fordern wir eine Anlauf- oder Beschwerdestelle für den Bereich Inklusion und Antidiskriminierung. Wenn es Fälle von Diskriminierung und Ausgrenzung an der Schule gibt, dann reicht es auch nicht, wenn du einfach nur mehr Lehrkräfte hast. Täglich haben wir Unterrichtsausfall an vielen Berliner Schulen, weil wir einfach eine so geringe Personalausstattung haben. Es macht mehr Sinn, dass die Schüler*innen weniger, aber guten Unterricht mit einem guten Betreuungsschlüssel haben. Man muss Schule vom Kind her denken und schnell dafür sorgen, dass es Ressourcen gibt für multiprofessionelle Teams und die Lehrkräfteausbildung. Dazu gekommen ist auch das Thema Zukunftsfähigkeit. Wir haben den Klimawandel und eine Demokratiekrise, auch diese Themen müssen Raum finden in der Schule, und viele Kolleg*innen sind auch bereit dazu.
Was ist deine Vision von Schule?
Meine Vision von Schule ist ein Bildungssystem, in dem das Wohlbefinden der Kinder und Jugendlichen im Vordergrund steht. Damit meine ich, dass sie eine Lernumgebung haben, in der sie sich wohlfühlen und Lust auf Lernen haben. Das hat auch mit den Räumen zu tun. An finnischen Schulen hast du beispielsweise wirklich Lust, dich dort aufzuhalten, tolle Räume mit viel Dämmmaterial, was eine ruhigere Atmosphäre schafft. Kinder und Jugendliche sind laut und das ist auch gut so, aber man kann auch architektonisch was machen. Es gibt nicht die eine Form von Schule, die die beste ist, sondern es gibt Schule als demokratischen Lernraum von allen Beteiligten, vor allem Schüler*innen und Beschäftigten, aber natürlich auch den Eltern. Das funktioniert besser, wenn du weder Zeitdruck noch Personalmangel hast.
„Viele Kolleg*innen probieren neue Konzepte aus. Für einen umfassenden Wandel braucht es aber Ressourcen und Unterstützung von außen.“
Philipp Dehne, Mitbegründer von „Schule muss anders“
Was wäre der erste konkrete Schritt dahin?
Die Bildungskrise ernsthaft anzuerkennen. Da bin ich bei der Ebene der politischen Entscheidungsträger*innen. Diese massive systemische Bildungskrise sieht man an Personalmangel, Leistungsergebnissen und Berichten über zunehmende Konflikte und Gewalt im Schulalltag. Bildung muss eine der drei Top-Prioritäten unserer Gesellschaft sein. Wir müssen die Mittel bereitstellen, um die Schulen und die Kitas so auszustatten, dass wir das Ruder herumreißen können. Eine konkrete Forderung von „Schule muss anders“ ist, dass es einen bundesweiten nationalen Bildungsgipfel mit dem Bundeskanzler, den Bundesländern und der Zivilgesellschaft gibt. Der steht im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition auf Bundesebene, ist aber noch nicht einberufen worden. So könnte man einen gemeinsamen Prozess einleiten, um zu sehen, wie man von der Bildungskrise zu einer Bildungswende kommt.
Warum schaffen es manche Schulen anders zu sein?
Es gibt viele Schulen, die sich auf Initiative von Kolleg*innen und Schulleitungen auf den Weg gemacht haben, neue Konzepte auszuprobieren und wirklich Schule anders machen wollen: sei es über Projekte, Schülerpartizipation oder mehr Raum für Beziehungsarbeit. Das führt aber nicht zu einem umfassenden Wandel, weil die persönliche Motivation ohne Unterstützung von außen und ohne Ressourcen einfach nicht immer ausreicht.
Was müsste sich noch ändern?
Bei Schulen haben wir eine Ungleichheit. Es gibt kaum ein OECD-Land, in dem der Bildungserfolg eines Kindes so stark vom Bildungsabschluss der Eltern abhängt wie in Deutschland. Wenn deine Eltern studiert haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass du auch studieren wirst. Wenn deine Eltern kein Abi haben, ist das sehr unwahrscheinlich. Man muss Ungleiches ungleich behandeln. Das heißt, es gibt Schulen, die brauchen mehr Unterstützung und mehr Ressourcen. Zum Beispiel ist es so, dass es in Berlin eine Lehrkräfteausstattung von 98,4 % an Gymnasien und von gut 96% an Grundschulen gibt. Die Grundschulen, wo alle Kinder noch zusammen zur Schule gehen können und die Grundlagen gelegt werden, müssen erstmal deutlich stärker im Fokus sein als Gymnasien, wo dann nur ein Teil der Schüler*innen ist. Das meinen wir mit Ungleiches ungleich behandeln.
Welche Chancen und Herausforderungen siehst du in Nordneukölln?
Hier kommen Kinder aus sehr verschiedenen Hintergründen zusammen und es treffen sich alle in der Schule, der potenziell ein gleichberechtigter Raum ist. Das ist wirklich eine große Chance. Da erlebe ich viele motivierte Lehrkräfte und auch viele Eltern, die sich einbringen wollen. Die Herausforderung ist, dass es manchmal mehr Schüler*innen gibt, die noch einen besonderen Unterstützungsbedarf haben und dafür Schulen wiederum mehr Unterstützung brauchen. Das kann im Bereich Sprachförderung, Frustrationstoleranz oder Motorik sein. Gerade nach Corona-Zeiten gibt es viele Studien, die sagen, dass die Motorik schlechter ausgeprägt ist als vorher. Um alle Kinder und Jugendlichen zu erreichen, braucht es ausreichende Unterstützung durch multiprofessionelle Teams, es braucht freie Räume, damit man in kleineren Gruppen und in Projekten arbeiten kann. Das muss immer das Ziel sein: „Schule muss anders“ nicht nur für bestimmte Kinder, sondern für alle Kinder. Bei manchen ist es aber dringender, weil einfach die Ressourcen in den Elternhäusern unterschiedlich verteilt sind.
Was kann ich tun, wenn ich vor Ort aktiv werden möchte?
Du kannst dich direkt bei uns melden, anrufen oder eine Mail schreiben. Alle zwei Wochen gibt es ein Willkommenstreffen. Dann wird geguckt, wo man sich je nach Interesse einbringen kann und will. Am besten wäre es, wieder eine Bezirksgruppe für Neukölln aufzubauen, die dann einen ganz großen Gestaltungsraum hat. Manche beschäftigen sich mit dem Schulplatzmangel, andere mit der Ausstattung. Wir stellen den Rahmen und geben eine Begleitung. Letztendlich muss jede Person selbst entscheiden: Wie viel Zeit bringe ich mit? Habe ich Lust, etwas vor Ort zu machen oder bin ich bei den größeren Aktionen im Jahr dabei? Als Mediator*in kann ich beispielsweise auch gucken, dass meine Schulgemeinschaft über die Aktionen auf dem Laufenden gehalten wird.
Was ist noch wichtig?
Vielleicht noch die Frage: Sollte man von Brennpunktschulen sprechen? Kolleg*innen einer Neuköllner Gemeinschaftsschule sprechen stattdessen von „Schulen in normaler Lage“. Also ich würde sagen: Nein, man sollte nicht von Brennpunktschulen reden, weil das auch den Blick auf Jugendliche und nicht den Blick von Jugendlichen übernimmt. Für die Kinder und Jugendlichen, die auf diese Schulen gehen, ist ihr Schulalltag einfach völlig normal. Schule muss es schaffen, auf die Schüler*innen einzugehen. Die Schüler*innen müssen sich nicht zwanghaft dem altbackenen deutschen Schulsystem anpassen. Natürlich braucht es klare Gruppen- und Verhaltensregeln. Aber gleichzeitig ist es so: Schule muss Angebote machen, um bei Schüler*innen die Lernmotivation zu erhalten oder zu steigern. Das ist der Auftrag von Schule. Ich finde es wichtig, dass wir keine stigmatisierende Debatte führen, die es ja auch in Neukölln und oft auch unter Eltern schnell geben kann.
Mach mit! #schulemussanders bringt Menschen zusammen, die sich ein gutes Schulsystem für alle wünschen und gemeinsam Veränderungen anstoßen wollen. Bei der Kampagne sind Einzelpersonen und Gruppen aktiv. Weitere Infos und Termine: www.schule-muss-anders.de | Sen de katıl! #schulemussanders, herkes için iyi bir okul sistemi ve bunun için gerekli değişimleri birlikte başlatmak isteyen insanları bir araya getiriyor. Kampanyada bireyler ve gruplar aktif katılımda bulunuyorlar. Daha fazla bilgi ve tarihler için: www.schule-muss-anders.de |
Get involved! #schulemussanders unites those who seek an inclusive and effective school system for all. Join us in driving meaningful change. Both individuals and groups are welcome to participate. For more information and upcoming events: www.schule-muss-anders.de | شارك معنا! يجمع #schulemussanders الأشخاص الذين يريدون نظامًا مدرسيًا جيدًا للجميع ويريدون بدء التغييرات معًا. وينشط في هذه الحملة أفراد ومجموعات. مزيد من المعلومات والمواعيد على هذا الموقع: www.schule-muss-anders.de |
Dieser Beitrag ist zum ersten Mal am 28. Juni 2024 in der Donauwelle 09 erschienen. Die Donauwelle wurde im Rahmen des Projektes „Donaukiez macht Medien“ erstellt. Dieses Projekt wird gefördert durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin im Rahmen des Städtebauförderprogramms Sozialer Zusammenhalt – Zusammenleben im Quartier gemeinsam gestalten.