Was für manche einfach nur Müll ist, erzählt für andere von Ungleichheit, Verdrängung, Protest – und einem Blick, der lieber wegschaut als hinhört. Beobachtungen eines Kiezdenkers.
– von Oğuzhan Danışmanoğlu

Müll im Kiez? Altbekanntes Thema… Aber hinter diesem Müllthema verbirgt sich eigentlich ein viel tieferes Phänomen – verschiedene Formen von Whiteness.
„Whiteness“ meint, dass weiße, meist christliche Europäer – oft Männer – über viele Jahrhunderte in vielen Bereichen wie Politik, Wirtschaft oder Kultur den Ton angegeben haben. Aber ich spreche bewusst von „Whitenesses“ im Plural. Denn es geht nicht nur um Hautfarbe, sondern um eine Haltung, die sich durch verschiedene Menschengruppen zieht – ob europäisch oder orientalisch. Diese Haltung lautet: Müll soll produziert werden, aber gefälligst unsichtbar sein.
Mich hat am meisten diese Schnittstelle zwischen Müll und Whiteness interessiert. Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken. Woher kommt all der sogenannte Dreck – und warum wird er, durch einen White-Filter betrachtet, so eng und moralisch bewertet?
Ich sag gleich vorweg: Das hier ist keine Botschaft für gut gemeinte Beiträge aus der Machtperspektive. Ja, es liegt viel im Kiez rum. Und ja, man kann erwarten, dass das in bestimmten Kontexten wichtig oder sogar gesund ist. Denn dieser Müll legt manchmal die verborgenen Machtstrukturen offen.
Lest ruhig meine vier Beispiele, warum Müll im Kiez nicht nur Müll ist, sondern ein Spiegel verschiedener Whiteness-Phänomene:
Beispiel 1: Der Hundekot von Pudel Maxi, 8 Jahre alt
Maxi hinterlässt regelmäßig seine Spuren im Kiez. Man tritt rein, man kehrt es weg. Sein Herr – nennen wir ihn Fabian K., 83 Jahre – kann sich nicht jeden Tag bücken, um den Kot einzusammeln. Er müsste öfter jemanden engagieren, kann sich das aber nicht leisten. Das sieht dann aus wie Verwahrlosung, ist aber schlicht Altersarmut. Der White-Filter lässt uns nur den Müll sehen, nicht die soziale Not dahinter.
Beispiel 2: Das Sektglas der Rebellin Frieda K.
Ich kenne ihren Namen nicht, aber ihre Tat. Am 23. April 2025, Mitternacht, steigt sie in ihren Sportwagen und fährt zu einem Mann, der ihrer kleinen Schwester im Netz gedroht hatte. Sie fügte seinem Clio erheblichen Schaden zu – mit mehreren Sektflaschen, die sie mitgebracht hatte. Klar hat sie den Müll danach nicht aufgeräumt. Aber für mich war das begründet. Die Whiteness-Perspektive würde hier nur den zurückgelassenen Müll bewerten, nicht den Akt des Widerstands.
Beispiel 3: Dominik und sein Abendessen
Er ist 23, seit er 8 ist, mehr oder weniger alleine unterwegs. Viele Baustellen im Leben, manchmal ist er auch wirklich auf Baustellen oder auf Friedhöfen. Er kann seinen Müll nicht immer entsorgen. Er ist einfach froh, dass er überhaupt was gegessen hat. Das Geld vom Jobcenter reicht nicht immer. Durch den White-Filter erscheint er als Problem, nicht als Symptom eines Systems.
Beispiel 4: Selma und ihr gerechter Zorn
Selma, 42, lebte lange günstig als Untermieterin in einem Loft in Kreuzberg. Dann wurde das Haus verkauft, saniert, gentrifiziert. Seitdem hinterlässt sie symbolisch Müll vor Sterne-Restaurants oder Arkaden – als Akt des Widerstands. Ihr Müll ist politisch. Er ist eine direkte Antwort auf die Whiteness, die Verdrängung schafft und gleichzeitig saubere Straßen fordert.
Ich unterscheide zwei Arten von Müll: den sichtbaren – und den unsichtbaren. Der unsichtbare ist heuchlerisch und steht symbolisch für Whiteness: Probleme auslagern, statt sich ihnen zu stellen. Zürich wirkt picobello sauber, produziert aber riesige Müllmengen* – die landen teils in anderen Ländern. Unser Kiezmüll dagegen zeigt, wie wir wirklich leben und konsumieren. Vielleicht ist sichtbarer Müll deshalb ehrlicher – und gesund! Mein Appell: Wer Müll nur als unethisch, nervig und unzivilisiert betrachtet – und damit durch einen typischen White-Filter blickt – sollte mal durchatmen. Und die Geschichten hinter dem Müll anschauen!
*2 kg pro Kopf und Tag an Siedlungsabfall und 25 kg Abfall pro Person und Tag (inkl. Industrie, Bauschutt etc.). Damit weltweit spitze. Quelle: Bundesamt für Umwelt (BAFU), Schweiz – Abfallstatistik 2022 https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/abfall/daten.html
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