Kiezredaktion der Donauwelle

West-Berlin war ein Dorf.

Seit über 80 Jahren in Neukölln: das Ehepaar Babkuhl aus dem Donaukiez.
Hier bei ihrer Heirat am 26. August 1960.

Renate (Reni) (82) und Hans Babkuhl (86) sind seit über 60 Jahren ein Paar und haben vor kurzem ihre Diamantene Hochzeit gefeiert. Reni ist noch nie umgezogen. Zusammen mit Hans wohnt sie in der Weserstraße noch immer in der Wohnung, in der sie aufgewachsen ist.

von Claire Horst und Yael Parish

Wie habt ihr euch kennengelernt?

Hans: Ich war schon mit 16 Jahren von zu Hause ausgezogen und wohnte in einem umgebauten Rettungsboot an der Wildenbruchbrücke. Sie kam mit ihrem Chow-Chow vorbei, und ich hatte meine Mischung zwischen Schaukelpferd und Elefant.

Reni: Ein Stänker.

Hans: Die beeden Hunde haben sich vertragen. Und so haben die Hunde uns praktisch verkuppelt.

Habt ihr zu Hause gewohnt, bis ihr geheiratet habt?

Reni: Ich hab ständig mit Muttern und so gewohnt.

Hans: Ich war ja schon mit gut 16 weg.

Reni: Du warst schon immer ein Frühzünder.

Hans: Freche Jöre! Ich will nicht sagen, dass ich ein Rabauke war, aber ich hatte Ziele. Und die habe ich konsequent durchgezogen. Ich hatte mir zum Beispiel als Kind vorgenommen, ich will eingesegnet werden. Ich will kirchlich getraut werden mit ‘ne Kutsche.

Die Kutsche kam vom Fuhrpark Schöne am Richardplatz. Ich hab mich bei meinen Eltern am Kottbusser Damm abholen lassen. Da kam der Kutscher hoch und ich kam runter im Frack, dann rin in die Kutsche, dann hab ich Ossastraße Ecke Weichselstraße den Brautstrauß abgeholt, dann bin ich mit der Kutsche vorgefahren und hab meine Frau runtergeholt.

Reni: Noch Fräulein bitte, ja!

Hans: Nee, da waren wir schon. Standesamt waren wir schon.
… und dann sind wir mit der Kutsche noch ‘ne Runde gefahren und vor die Kirche. Das war eine irre Schau.

Reni: Er musste aber sehr um mich kämpfen. Mein Vater war dagegen.

Hans: Und ich war ein ganz schüchterner Mensch.

Was habt ihr beruflich gemacht?

Hans: Ich habe zuerst Bäcker gelernt. Seither habe ich keine Backstube mehr von innen gesehen. Dann hab ich alles gemacht, wo man Geld verdienen konnte: den Reichstag enttrümmert, Sakkos gebügelt, Bleche gebogen, Eisenträger gesägt, Straßen gepflastert und Rohre verlegt. Dann bin ich zur BVG gekommen, und das war dann mein Traum. Erst Straßenbahnschaffner, Busschaffner und dann Busfahrer. Das habe ich 34 Jahre gemacht.

Reni: Ich hatte einen Traum als Schülerin nach dem Krieg: Modezeichnerin oder Dekorateurin. Wenn mein Vater mich mehr unterstützt hätte, hätte ich zum Lette-Verein kommen können. Aber wir hatten kein Geld. Ich musste eine Lehre machen als Näherin. Das war harte Arbeit, immer auf Akkord.

Hans in seinem BVG-Bus an der Jerusalemer Kirche, 1965

Wie habt ihr die Nachkriegszeit erlebt?

Reni: Wir waren ausgebombt. Mein Vater hat uns einen Raum wieder so hergerichtet, dass wir da wohnen konnten. Wir sind im gleichen Haus geblieben, seit 82 Jahren wohne ich bei der Degewo. Wir waren umgeben von Trümmern. Aber man hat sich damals mehr unterstützt. Wir waren ja fast alle arm.

Die Kinder heute haben aber viel mehr Selbstbewusstsein. Das bewundere ich. Wir wurden immer kleingehalten. Du darfst nicht vergessen, die Kaiserzeit war noch gar nicht so lange her, und die Hitlerzeit. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht.

Ach, und damit die Berliner ein bisschen was zu essen hatten – mit der S-Bahn raus …

Hans: …Hamsterfahrten. Da hat man irgendwas, was die Eltern entbehren konnten, gegriffen. Wir sind immer frühmorgens um dreie losgetigert zum Anhalter Bahnhof. Es gab ja keine Bahnverbindung. Um fünfe waren wir da. Dann sind wir mit der Bahn nach Michendorf und haben versucht, irgendwas an Lebensmitteln zu kriegen.

Reni: Und dann hieß es nachher von den Berlinern unter sich: Die Bauern haben jetzt nicht nur in ihrem Reich Teppiche so hoch, sondern die Kühe stehen jetzt ooch inne Teppiche.

Zerbombte Weserstraße 1943

Wie erinnert ihr euch an das geteilte Berlin? Erinnert ihr euch an die Rosinenbomber?

Hans: Wir sind als Kinder zur Oderstraße, da war ein Toilettenhäuschen. Da haben wir auf dem Dach gesessen und die Flugzeugnummern aufgeschrieben. Und wenn dann einer ankam und hat mit den Flügeln gewackelt, dann sind wir runter von dem Häuschen, aufs Gelände rauf, dann kamen nämlich die kleinen Taschentücher, die Fallschirme. Entweder war mal ein kleines Auto dran oder ein Stückchen Schokolade oder ein Bonbon. Es gab dann natürlich immer mächtige Kämpfe.

Und wie die Blockade zu Ende war, dann kam allmählich das Wirtschaftswunder, und da ging das los mit dem Neid. Der eine hatte einen VW, da musste der andere schon was Größeres haben. Und dann war der Zusammenhalt nicht mehr vorhanden.

Wie war Neukölln damals?

Hans: Die Weserstraße war eine ruhige Straße. Sonnenallee und Karl-Marx-Straße waren Geschäftsstraßen. Ein Geschäft schöner wie det andere.

Reni: Ja, Neukölln hatte schöne Ecken. Aber wir hatten auch Berliner Kneipen. Bei uns, Weser Ecke Weichsel, da musste ich immer, wenn Papa sich das mal leisten konnte, ein Siphon (Bierkrug, Anm. d. Red.) holen. Ich hatte immer Angst, wenn ich da rin musste, Besoffene, und ich war so kleen und zierlich, aber ich hab’s geschafft, rin und raus. Das war vielleicht 1947 oder 1948.

Reni beim Rollschuhlaufen, 1957—heute Sportplatz Innstraße

Und was haben die Kinder gespielt?

Reni: Murmeln, draußen am Baum. Damals gab es noch nicht so viele Hunde. Da konnte man überall spielen. Und dann Hopse. Und wir waren Rollschuh laufen, auf der Hasenheide, wo das Jahn-Denkmal ist.

Hans: An der Lachmannstraße waren die Häuser an der Ecke kaputt. Da standen bloß noch die Ruinen. Wir Jungs wurden da hochgeschickt mit einer Wäscheleine, wir mussten da ruff, weil wir ja kleen waren, und Angst hatten wir auch keine, die Leine um so einen Fensterpfosten rumschmeißen, dann haben sie ein Drahtseil hochgezogen, dann wurde das mit einer Winde verknotet und strammgezogen. Und dann mussten sich alle auf den Draht legen, bis das Haus umgefallen ist. So wurden die ersten Häuser eingerissen.

Reni: Bei uns war die zweite Etage zerschossen. Die jungen Frauen haben sich da gesonnt. Auf den Eisenträgern langbalanciert, um vorne ein bisschen rauszugucken mit Sonne und so was. Aber ich glaube, die Badeanzüge waren nicht so schick wie heute.

Seid ihr gerne in die Schule gegangen?

Reni: Ja, da gab es ab und zu mal was Leckeres zu essen, die Schwedenspeisung. Da gab es einen Becher Milchsuppe, aber eine ganz tolle, und ein schönes Brötchen dazu, ein Milchbrötchen. Das wurde an die Kleineren verteilt.

Und wie waren die Lehrer?

Reni: Grausam. Jedenfalls die, die ich hatte. Ich habe nur noch Angst gehabt in die Schule zu gehen. Es war eine fürchterliche Zeit. Aber hinterher hatten wir eine ganz reizende Lehrerin.

Das Ehepaar Babkuhl über die Jahre.

Wie habt ihr die Wende erlebt?

Hans: Ich hatte da gerade frei. Wir sitzen beim Fernsehen, und ich will mir ein Bier eingießen, da klingelt das Telefon. Ist mein Chef dran. Sagt der: Hans, was machst du? Ich sage, ich mal grade ein Bier trinken. Stell det Bier weg, Wieso denn dit. Morgen früh um sechs stehst du auf der Matte. Wir brauchen alles, wat ein Lenkrad halten kann, wird jebraucht. Und dann ging det los, det Theater. Wir sind dann von Rudow, mein Betriebshof war hier in der Gradestraße, nach Schönefeld. Hin und her, hin und her. Die sind in Sechserreihen von Schönefeld nach Rudow gelaufen. Und wir mit den Bussen, ein Bus hinternander. Also, war ein Wahnsinn.

Reni: Das soll sich jetzt nicht böse anhören, aber damals zur Weihnachtszeit, wenn ich Mehl oder Zucker besorgen wollte, war alles leer. Da hat man manchmal gedacht, lasst uns doch noch was da. Auf der anderen Seite war alles eine große Freude. Aber nachher die Normalität, das war dann wieder anders.

Hans: Vor allen Dingen mit dem Busfahren. Wir waren hier in West-Berlin praktisch wie eine Familie, die ganze BVG. Und in dem Moment, wo die Mauer jefallen ist, war dit anders. Det war irgendwie nicht mehr so persönlich. West-Berlin war ein Dorf.

Reni: Überall, wo man hingekommen ist, hat man sich den Kopf gestoßen an der Mauer.

Wie erlebt ihr den Kiez denn jetzt? Wie ist es hier als älterer Mensch zu leben?

Reni: Die Weserstraße ist jetzt ganz toll, die wird umgebaut. Wunderbar. Sie haben auch Bäume gesetzt. Aber wir kommen ja nicht mehr so viel raus. Corona hat uns unerhört zurückgedrängt mit allem. Das hat mir sehr zu schaffen gemacht. Die Unterhaltungen haben uns gefehlt.

Hans: Ja, der Kontakt fehlte. Den muss man sich nun allmählich wieder aufbauen. Aber wir können nicht klagen. Mit unseren Nachbarsleuten sind wir gut bedient. Am meisten Freude haben wir an den Zwillingen der Nachbarn. Drei Jahre werden sie jetzt alt.

Wir nehmen euch als harmonisches Paar wahr. Gab es Phasen in eurem Leben, die besonders schwierig waren?

Reni: Ich hatte meine Oma zehn Jahre oder elf Jahre bei uns zu Hause. Sie hatte drei kleine Schlaganfälle hinter sich. Meine Mutter war in dieser Zeit auch schwer krank. In seiner Familie wurde ich dafür nicht anerkannt. „Ach, was macht die denn schon“. Dass es mir selber manchmal nicht so gut ging… Es war nicht leicht.

An was erinnert ihr euch denn am liebsten?

Hans: Wie wir auf Rente gegangen sind.

Reni: Ja, die schönen Reisen, die wir gemacht haben. Die Donaureise.

Hans: Ja, da waren wir nur noch unterwegs. 1985, zur Silberhochzeit: Passau, Ismael, Donaudelta, übers Schwarze Meer, Halbinsel Krim, Istanbul und die ganze Chose wieder zurück. Für diese Fahrt brauchten wir jeder 48 Passbilder.

Reni: Als wir Mutter nicht mehr hatten, sind wir viel gereist.

Hans: Koffer ausgepackt, Waschmaschine angeschmissen, andern Koffer schon gepackt.

Die Babkuhls heute, bei unserem Interview im Kiezgarten.

Ihr habt harte Zeiten durchlebt. Ihr wirkt trotzdem nicht verbittert, sondern glücklich. Wie macht man das?

Hans: Man rauft sich so zusammen. Und vor allem ist ja das Problem gewesen: Sie war das Einzelkind, wohlbehütet, und dann kam so ein Chaot wie ich. Wir waren vier Kinder, wir haben uns gehauen wie die Kesselflicker. Aber der Deckel hat gepasst.

Interview: Claire Horst & Yael Parish
Fotos: Yael Parish


Eine verkürzte Version dieses Beitrags erschien in der 5. Ausgabe der Donauwelle im Juni 2022. Die Donauwelle wurde im Rahmen des Projektes „Donaukiez macht Medien“ erstellt. Gefördert durch die Bundesrepublik Deutschland und das Land Berlin im Rahmen der Zukunftsinitiative Stadtteil, Teilprogramm Sozialer Zusammenhalt.